Ein Bericht von Hartmut Rüf
Im Jänner 2022 erschien die deutsche Übersetzung des amerikanischen Buches „The dawn of everything“ mit dem Titel „Anfänge, eine neue Geschichte der Menschheit“. Die Autoren sind der Archäologe David Wengrow und der Anthropologe David Graeber, der kurz nach Fertigstellung des Buches verstorben ist.
Das Buch liefert einen wesentlichen Beitrag zu den Debatten über die Ursprünge des Staates, des Privateigentums und der Ungleichheit. Eine überwältigende Zusammenschau archäologischer und anthropologischer Daten von der Prähistorik bis zu Erkenntnissen über indigene Völker zur Zeit, als sie erstmals mit Weißen in Berührung kamen, zeigt, dass die Entwicklung der Menschheit längst nicht linear und zwangsläufig zu Privateigentum und staatlichen Strukturen führen musste, wie es das Standardmodell kultureller Entwicklung des Menschen beschreibt.
Der tatsächliche Verlauf jedoch war viel vielfältiger als in der klassischen Geschichtsschreibung angenommen, vorgeschichtliche Gesellschaften wiesen vielmehr hinsichtlich ihres politischen Systems und ihrer wirtschaftlichen Produktionsweise eine ungeheure Komplexität auf. Selbst nebeneinander wohnende Gesellschaften, die sich gegenseitig sicher gut kannten, konnten völlig konträre Gesellschaftsformen haben, eine Jäger- und Sammler-gesellschaft neben einer Landwirtschaft betreibenden Gesellschaft, eine egalitäre Gesellschaft neben einer stark hierarchisierten.
Bisherige Annahmen gingen davon aus, nur hierarchische Strukturen, die mit dem Aufkommen der Landwirtschaft entstanden, seien zur Organisation von kollektiven Kulturleistungen fähig. Diese Annahmen wurden jedoch durch die Ausgrabungen von Göbekli Tepe eindrucksvoll widerlegt. Die großartigen künstlerischen Zeugnisse in Form von meterhohen, mit Tier- und Menschendarstellungen dekorierten Pfeilern gehen bis auf das 10. Jahrtausend v.Chr. zurück und sind eindeutig Jägern und Sammlern zuzuordnen.
Der als neolithische Revolution bekannte und als endgültig und unumkehrbar angesehene Übergang zur Landwirtschaft scheint zumindest in Vorderasien, im Zweistromland keine Revolution gewesen zu sein. Eher dürfte ein jahrtausendelanger Prozess mit Experimenten mit Gräsern und Knollen vorangegangen sein, wobei Gartenbau und Jagd/Sammeltätigkeit die längste Zeit parallel liefen und die landwirtschaftliche Tätigkeit zeitweise wieder aufgegeben wurde. Berichte über indigene Völker in Nordamerika zur Zeit des ersten Kontaktes mit Europäern zeigen, dass auch dort der Übergang zur Landwirtschaft nicht unumkehrbar war, je nach Ertragsfähigkeit der Wirtschaftsarten wurde über Jahrhunderte der Lebensunterhalt mit entweder Viehzucht, Jagd, Anbau und Sammeltätigkeit erarbeitet. Viele dieser Berichte zeigen auch, dass die Vorstellung von Besitz von Land und Wasser zu dieser Zeit als absurd angesehen wurde.
Die klassische Geschichtsschreibung nimmt an, dass ab einer Größe von mehreren Hundert Einwohnern eine Siedlung Verwaltung und damit Hierarchie benötigt. Beispiele aus der Urgeschichte in verschiedenen Teilen der Welt zeigen, dass dies nicht so sein muss. In den Megasiedlungen der Cucuteni-Tripolje-Kultur (4. Jahrtausend v.Chr.) in der ukrainischen Steppe mit bis zu zwanzigtausend Einwohnern wurde kein einziges Gebäude ausgegraben, das auf Grund unterschiedlicher Größe oder Ausstattung als Wohnstätte einer Elite anzusehen wäre. Anthropologische Zeugnisse von Siedlungen mit ebensolcher Anordnung in konzentrischen Kreisen legen nahe, dass die zum Betrieb des Dorfes notwendigen Tätigkeiten in saisonaler Rotation an den Nachbarn im Kreis weitergereicht wurden.
Ein anderes Beispiel ist die Indus- oder Harappa-Kultur in Pakistan, deren bedeutende Siedlung Mohenjo-Daro keinerlei Anzeichen von sozialer Ungleichheit zu erkennen lässt.
Graeber und Wengrow zeigen, dass auch Städte nicht notwendigerweise hierarchische Strukturen aufweisen mussten. Die prähistorische Stadt Teotihuacán in Mexiko mit geschätzt hunderttausend Einwohnern ist ein ungewöhnliches Beispiel einer Stadt mit einer für die damalige Zeit gewaltigen Größe, die sich über längere Zeit anscheinend selbst regiert hat. Das archäologische Bild ergibt keinerlei Regierungsgebäude oder palastartige Gebäude, sondern lauter ähnliche gut ausgestattete Häuser, in einem Ausmaß, dass man heute sozialer Wohnbau dazu sagen würde.
Viele dieser archäologischen und anthropologischen Daten sind seit langer Zeit bekannt, wurden jedoch entweder als Fehlinterpretationen bzw. Ausnahmen angesehen oder schlicht ignoriert.
Unbeantwortet lassen die Autoren die Frage, warum die große Anzahl von gelebten politischen und sozialen Möglichkeiten der Geschichte sich auf eine einzige reduziert hat.
Das Buch:
David Graeber und David Wengrow: Anfänge, eine neue Geschichte der Menschheit, Verlag Klett Cotta, Jänner 2022